I N H A L T…
DIE FLUCHT
BARBIE
EinTraum?
PRÄGENDE JUGEND
ENTSCHEIDUNGEN
WILDES PARTYGIRL
DER ERNSTHAFTE
IM ZUG | DAS WIEDERSEHEN
‚TO ALEXIS‘
TAUSEND SACHEN
ZUSAMMEN LEBEN
SKURRILE KÜNSTLERSZENE
ENTTÄUSCHUNGEN
ZERSTÖRERISCHE EIFERSUCHT
ZERRISSENE HERZEN
In derTiefe
DER DELFIN …Alexanders wahres Ich
VERSTEHEN | ERKENNEN | VERZEIHEN
RETTENDE HÄNDE | FÜR IMMER
Seite 88-90
ENTTÄUSCHUNGEN
„Ich habe einen extravaganten Liedermacher engagiert, der Euch überzeugen wird. Am ersten Mai wird er abends für ordentlich Stimmung sorgen und das Publikum anheizen. Im Anschluss könnt ihr zwei euch den Leuten vorstellen und sie dürfen eure Werke bewundern. Wie findet ihr den Gedanken? Für eure Bilder habe ich eine geeignete Wand zur Präsentation ausgesucht – unmittelbar neben meiner neuesten Serie „Highest Visions“. Die Freundinnen fanden den Vorschlag grandios und willigten entzückt ein.
Am frühen Morgen des ersten Mai standen Aya und Verena mit einem geliehenen Kleinbus vor Marquis’ Haus. Zu dritt brachten sie die sperrigen Bilder in die Galerie. Marquis hatte appetitliche Lachs-Häppchen vorbereitet und französischen Crémant gekühlt, um dem Anlass einen feierlichen Rahmen zu verleihen. Aya war von Euphorie durchflutet, ihr strahlendes Lächeln konnte die Erregung nicht verbergen.
„Mir ist schwindlig vor Aufregung – es fühlt sich an, als hätte ich Watte im Kopf. Hoffentlich bekomme ich heute Abend einen Ton heraus.“ Sie nahm einen Schluck der prickelnden Flüssigkeit und atmete tief durch. „Ich bin relativ gelassen“, tönte Verena großspurig, dabei zwinkerte sie Aya zu. „…nein, nicht wirklich“, klärte sie schnell mit aufgerissenen Augen und zusammengekniffenen Lippen auf. „Mir geht‘s auch nicht anders als dir, ich hab ein flaues Gefühl in der Magengegend.“
Gegen achtzehn Uhr stellte sich Garbaron vor. Der etwa fünfzigjährige Sänger und Gitarrist – ein Liedermacher der „alten Schule“ – stammte aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet ‚Grand-Est‘. Seine Musik wirkte derb, seine Stimme hatte einen rauen, dunklen Klang und seine Texte verkündeten bedrohlich wirkende Botschaften. Aya konnte das meiste verstehen – in der Schule gehörte Französisch zunächst zu den Pflichtfächern, doch sie verliebte sich in die melodisch klingende Sprache und wählte sie später wieder dazu, so wurden vier Jahre daraus.
Garbaron behandelte die Saiten seiner Akustik-Gitarre grob, der Betrachter musste sich fragen, ob diese bis zum Ende des energiegeladenen Vortrages halten würden. Seine Mimik wirkte dramatisch ernst – die dunklen Augenbrauen zusammengekniffen, hielt er seinen Kopf, mit dem graumelierten Haarschopf, meist schräg nach vorn geneigt. Eine lange Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht, die er lässig nach hinten schüttelte, wenn er das Publikum mit seinen stechenden, blauen Augen anblickte, um seinen Botschaften mehr Ausdruck zu verleihen.
Doch trotz dieser Derbheit – oder gerade deswegen – fühlten sich die Freundinnen schnell in den Bann des Musikers gezogen und zugleich in eine andere Zeit versetzt. Rhythmus und Melodie klangen im Wechsel aufsteigend und wieder abfallend – die Stimme bebend laut und mahnend bis leise hauchend. Verena überkam eine Gänsehaut nach der anderen. „Er ist ein faszinierender Mann, wäre er zwanzig Jahre jünger, könnte ich für nichts garantieren…“, kokettierte sie mit verheißungsvollem Blick. Das gebannte Publikum forderte zwei Zugaben.
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ZERSTÖRERISCHE EIFERSUCHT
Das Jahr war vorüber und Alexanders Entscheidung gefallen – er hatte sich dem Leben in der Gastronomie verschrieben. Die Taverna öffnete, wie in der Branche üblich, an sechs Tagen die Woche. Während der Woche bewältigten Klemens und Alexander die Arbeit in der Küche allein, was bestens harmonierte. Sie behielten die kleine Karte mit landestypischen Speisen bei, selbstverständlich von der kretischen Großmutter überliefert. Hier wurden dem Gast keine überladenen Riesenteller serviert, auf denen Pommes und Soße zu einer matschigen Masse verklumpen und alle Beilagen übereinander liegen. Hier posierten auf jedem Teller übersichtliche ‚Originale‘. Und genau diese Originalität machte das To Alexis zum Geheimtipp.
Der anfangs kleine Kreis an Stammkundschaft wuchs rasant an. Die Leute kamen mittlerweile auch aus einem weiteren Umfeld, um die Authentizität des Restaurants zu genießen. Für die stärker frequentierten Wochenenden brauchten sie Verstärkung. Christos, der zweiundfünfzigjährige, leicht untersetzte Athener mit den lustigen Augen, hatte sich als Koch beworben und fast um den Job gefleht – und dies sollte sich als wahrer Glücksfall herausstellen.
„Hier fühle ich mich wie Zuhause, nehmt mich und ihr werdet es nicht bereuen!“, versuchte er energisch zu überzeugen. Sie vereinbarten einen Probeabend. Der ‚alte Fuchs‘ brillierte mit Routine und Raffinesse – er präsentierte dem Team eine eigene Kreation: Ein würziges Lamm-Schmorgericht mit viel Knoblauch, Tomaten, Okra-Schoten und Zwiebeln – als Highlight zauberte er eine spezielle Soße, die er so flink zubereitete, dass niemand die geheimen Zutaten nachvollziehen konnte. „Welche Gewürze hast du benutzt? Verflixt, den Geschmack kenne ich nicht – was ist das?“ Alexander schien überwältigt – und Christos hatte den Job.
Ella, die Auszubildende, wurde jetzt besonders hoch gefordert. Sie überraschte mit ihrem Ehrgeiz, den Getränkeservice allein zu stemmen. Das Team riet ihr davon ab, aber sie bestand darauf – und wie vermutet, hielt sie nicht lange durch. Aya bot ihre Unterstützung an, doch servierte sie bereits die Speisen – und das ständige Hin- und Herspringen zwischen Küche und Service erwies sich als schwierig. Sie brauchten bald Verstärkung.
So kam Claudia dazu – die Sympathische mit dem roten Lockenschopf. Sie sah wirklich hinreißend aus, obwohl sie eher mollig als schlank wirkte. Ihre Stimme klang weich und melodisch – und die Art, wie sie sich bewegte, mutete angenehm sanft an. Claudia war Ende dreißig – sie sah jedoch wesentlich jünger aus, was wohl ihrer freundlichen und positiven Ausstrahlung zu verdanken war.
Aya nahm Claudias Attraktivität sofort wahr – augenblicklich löste ihre innere Stimme Alarm aus. Vielleicht sah sie in Claudia ein wenig sich selbst, wie sie vor ihrer sportlichen Veränderung aussah. Ein heftiger Ruck durchfuhr sie und viele Fragen trübten plötzlich ihre klare Sicht. „Ob mir Alexander die Wahrheit gesagt hatte? Vielleicht sehnt er sich tatsächlich nach meiner fülligeren Figur zurück? Oh nein, das darf nicht sein..!“ Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und verfiel in Panik.
„Hilfe… alles dreht sich, ich fühle mich elend.“ Schnell informierte sie Ella über ihr Befinden und fuhr zur Wohnung. Kaum dort angekommen, zog sie sämtliche Kleider aus und betrachtete sich sorgfältig im großen Spiegel des Schlafzimmerschranks – sie bebte innerlich. Auf der Fensterbank lag ein kleiner Handspiegel, den sie immer benutzte, um sich ein Bild von ihrer Rückenansicht zu verschaffen – sie griff nach ihm.
„Du dumme Kuh, das hast du jetzt davon!“ beschimpfte Aya die junge Frau, die sie aus dem Spiegel mit grimmiger Miene anfeindete. Die Sportliche mit den Muskeln, den kleinen runden und festen Brüsten, dem trainierten, mit Sommersprossen übersäten Po, die schlanken, muskulösen Schenkel. Sie prüfte ihren Körper akribisch und drehte sich kritisch um sich selbst.
„Wieso glaubte ich bloß, ich würde ihm so gefallen?“, urteilte sie hart. Immer wieder sah sie ihr altes Ich vor ihrem inneren Auge, das plötzlich wieder existent zu sein schien – und sich jetzt Claudia nannte. Abgesehen von Körpergröße und Haarfarbe, sah sie aus wie ihr eigenes, wenn auch ehemaliges Ebenbild. Sogar die Nase mit dem Höcker schien identisch.
Aya spielte mit dem Gedanken, Jo anzurufen, entschied sich aber nach längerem Überlegen, die Sache zunächst alleine in Angriff zu nehmen.
Dies war ein einschneidender Moment in Ayas Leben, der ihr Innerstes zutiefst berührte und vielleicht alles verändern sollte. Sie fühlte sich plötzlich extrem verunsichert, so, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen.
„So ein Mist!“, schimpfte Aya. Lautes Klirren und Knallen ließen das Unglück erahnen: Vier zerbrochene Teller mit Tzatziki lagen auf den Dielen – zwischen der Theke und dem ersten Tisch mit sechs Stühlen, der zum Glück nicht besetzt war. Ella erschrak so sehr, dass sie fast zeitgleich zwei volle Biergläser fallen ließ. Die vier Gäste, die sich gerade zuprosteten, zuckten zusammen – Rotwein verteilte sich auf dem schneeweißen Leinentuch, das unter der blau-weiß-karierten Tischdecke aufgelegt war. Aya reagierte souverän lächelnd, mit einer spontanen Entschuldigung: „Liebe Gäste, auf diesen Schreck spendiere ich Ihnen ein Getränk nach Wahl. Die Tzatziki serviere ich in zwei Minuten.“
Alexander beobachtete das Spektakel aus der Küche und beschloss, es sei besser, Aya erst am Abend darauf anzusprechen. Mit einem Salzstreuer stürzte Ella zum Tisch und bestreute hastig das blutrot befleckte Leinentuch. „Sorry“, hauchte sie verlegen, hob beflissen die Weingläser zum freien Nachbartisch, und legte mit flinken Händen ein frisches Tuch auf.
„Zum Glück ist Claudias Arbeitsbeginn erst in zwei Tagen“, dachte Aya und beruhigte sich allmählich. Sie genoss die lebendige Atmosphäre, die sich bald einstellte und unterhielt sich hier und da mit den Gästen. Doch später, zu Hause, verhielt sie sich auffallend still.
„Was ist los mit dir, Liebes?“, waren Alexanders Worte, als er mit besorgter Miene durch die Wohnungstür trat.
„Nichts, wieso?“
Sie versuchte auszuweichen – schnell räumte sie Schuhe und Jacke in die Diele, die sie zuvor nur abstreifte und fallen ließ. Sie verschwand sofort im Bad und lehnte die Tür an, schloss sie jedoch nicht ab. „Belastet dich etwas Bestimmtes, Schatz? Dein heutiges Verhalten hat mich etwas verwirrt. Du schienst irgendwie völlig abwesend… und dann dieser Patzer…“, folgte als zweiter Versuch, Aya aus der Reserve zu locken.
„Nein, ich war bloß ausgerutscht, das kann doch passieren. Mir geht‘s gut, Alexander, wirklich.“, erklärte sie nuschelnd, mit der Zahnbürste im Mund. Sie hatte sich bis auf den Schlüpfer ausgezogen und das große Badehandtuch umgewickelt, was sie sonst nie tat. „Versteckst du dich vor mir?“, hinterfragte er.
„Ich glaube, meine Tage kündigen sich an – und diese krampfartigen Bauchschmerzen. Heute legen wir uns besser gleich schlafen.“
„Hmm“, brummte Alexander, fand sich aber schnell ab, zog seinen braun-gold-gestreiften Pyjama an und schlüpfte schon mal unter die Decke. Er griff nach seinem Buch auf dem Nachttisch und schaltete die Leselampe an.
„Sind die Schmerzen sehr stark, Liebes?“ Er klang nun besorgt.
„Nicht so sehr, doch es fühlt sich sehr unangenehm an.“, lautete die fast weinerlich klingende Antwort aus dem Badezimmer.
Am Dienstag hatte Claudia ihren ersten Arbeitstag. Aya arbeitete nur an den Wochenenden – und während der Woche nach Bedarf. Sie beschloss, ihre Präsenz während der Anfangsphase zu verstärken – zumindest an den Abenden. Jedoch nicht nur aufgrund der lobenswerten Aspekte des Mitgefühls und fürsorglicher Unterstützung – nein, hier war Vorsicht geboten. Sie beschloss, von nun an äußerst wachsam zu sein. Alexander betrachtete ihr Angebot als großzügige Geste und willigte ein, schließlich ahnte er nichts von ihrer emotionalen Verwirrung und den tatsächlichen Beweggründen.
Aya hatte den Eindruck, in Claudias Augen ein bewunderndes Leuchten zu erkennen, wenn sie Alexander mit gebanntem, nachdenklichem Blick anschaute. Ihre Lippen geschürzt, hielt sie den Kopf leicht zur Seite geneigt – und ihr Lächeln wirkte verklärt.
„Auch das noch, das fängt ja gut an!“ Ayas Adrenalinspiegel stieg – außer ihr schien es niemandem aufzufallen, oder doch?
Die ersten Tage waren hart für Aya. Niemals zuvor befand sie sich in der Situation, Sympathie oder gar Zuneigung heucheln zu müssen. Doch ihr Stolz befahl ihr, möglichst freundlich zu bleiben und sich ihre Emotionen keinesfalls anmerken zu lassen. Zum Glück hatte Claudia Berufserfahrung, so bedurfte es nur weniger Erklärungen. Doch stellte das Hand-in-Hand-Arbeiten anfangs eine Herausforderung dar.
Als Aya gegen achtzehn Uhr dreißig das To Alexis betrat, fand sie eine menschenleere Taverna ohne Gäste und Personal vor. Aus der Küche hörte sie zunächst leises Gekicher, das bald in schallendes Lachen überging. Ihr Herz überschlug sich vor Aufregung. Sie zögerte einen Moment lang, ging dann mit entschlossenen Schritten auf die hohe Schwingtür zu und riss diese mit großer Geste auf.
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IM ZUG | DAS WIEDERSEHEN
Zwei Jahre des sehnsüchtigen Wartens vergingen – Aya saß im Zug nach München. Sie hatte einen kleinen Koffer und ihre Sporttasche gepackt und sich von Mama zum Bahnhof bringen lassen. Ihren Fensterplatz im geschlossenen Abteil buchte sie vor einer Woche online. Der Platz zu ihrer Linken, und der ihr gegenüberliegende, blieben frei. Eine junge Mutter mit zwei Kindern – in rege Konversation vertieft – teilten sich mit ihr diese gläserne Kabine, die insgesamt sechs Sitzplätze aufwies. Die Mutter saß in Ayas Sitzreihe links, auf dem äußeren Platz an der Tür und behielt so ihre beiden Knirpse, direkt gegenüber positioniert, gut im Blick.
Das Mädchen mit dem langen, blonden Zopf schätzte Aya auf etwa fünf, den schüchterne rothaarigen Jungen auf etwa drei Jahre. Die Mutter war vielleicht Mitte zwanzig und selbst noch sehr kindlich in ihrer Art – so, wie sie sich ausdrückte und den Kleinen hochinteressante Geschichten erzählte. Mit reichlich Proviant, inklusive Naschwerk, schienen sie bestens ausgestattet, sodass keine Langeweile aufkam. Zunächst bot Mama Salamibrote an und die Kleinen durften eine Orangenlimonade aus der Dose, mit einem dicken Strohhalm dazu trinken. Anschließend reichte sie ein großes Stück heiß begehrten Schokoladenkuchen, der so lecker zu sein schien, dass er innerhalb weniger Sekunden von den gierigen kleinen Mäulern verschlungen worden war. Nach dem süßen, klebrigen Mahl, welches nicht nur in den kleinen Gesichtchen hellbraune Spuren hinterließ, die von Mama sorgfältig weggewischt wurden, erfolgte ein weiteres Highlight: in ihrer geheimnisvollsten Stimmlage trug nun Mama ein wohl selbst erfundenes Märchen vor. Die Geschichte handelte vom Riesen-Schokoladen-Mann, der in der Mittagssonne zerschmolz und, der verschwand, um abends, hinter einem Haus, in dem besonders liebe Kinder wohnten, wieder aufzutauchen. Dort durften die Kinder, weil sie so artig gewesen sind, von ihm naschen – so lange, bis die Sonne schien und er wieder verschwand.
Die Kleinen waren so schüchtern, dass sie kaum auf Ayas Versuche, in Kontakt zu treten, reagierten. Außerdem besaß die junge Mutter genügend Fantasie und ihre Lieblinge saßen mit großen Augen da und lauschten ihrer sanften Stimme. Darüber schien Aya eher erleichtert, sie glaubte, mit fremden Kindern nicht besonders gut umgehen zu können. Der Gedanke, sie müsse Spektakuläres vollbringen, um die Kleinen bei Laune zu halten, verursachte ihr Hemmungen – denn meistens schauten viele Augen zu und hatten irgendwelche Erwartungen – so empfand sie es zumindest.
Die drei stiegen nach der Hälfte der Strecke aus, Aya durfte für eine Stunde das Abteil für sich allein beanspruchen. Zufrieden betrachtete sie die unterschiedlichen Landschaftsstrukturen und die kleinen Ortschaften, durch die sie fuhren. Mal lag ein Dorf anscheinend bewegungslos und friedlich da, mal herrschte reges Treiben. Sie sah einen Wochenmarkt, wo frisches Obst und Gemüse angeboten wurden – sie konnte dies genauer beobachten, da der Zug hier einen kurzen Aufenthalt hatte und sich der Bahnhof direkt am Rande des kleinen Dorfes befand. Hier blieben Aya sieben Minuten bis zur Weiterfahrt, um sich etwas genauer umzuschauen – und sie sah manch erstaunlichen Gegenstand auf den Gleisen liegen. Etwas entfernt entdeckte sie weggeworfene Plastiktrinkbecher, jede Menge zerknüllte, gelbe Folie und Styroporbehälter, die vermutlich einmal fettiges Fastfood enthielten. Zwei Meter daneben erkannte sie eine weiße Tennissocke und einen einzelnen, vielleicht dazugehörigen Sportschuh – dieses Bild regte augenblicklich ihre Fantasie zu Horrorszenarien an. Schließlich blieb ihr Blick an einem kleinen, fast transparenten, blauen Müllsack hängen, der diffus einen abscheulichen Inhalt erahnen ließ. Das reichte ihr und sie beschloss, sich lieber wieder der kleinen, bunten Menschenmenge zuzuwenden, und sie beobachtete die wild mit den Händen fuchtelnden und Köpfen nickenden Verkäuferinnen, wie sie versuchten, ihre Kundschaft von der selbstverständlich allerbesten Ware zu überzeugen. Ein schriller Pfiff war zu hören – und die Fahrt ging weiter. Das leise ratternde Geräusch des Zuges wirkte betäubend und Aya fielen immer wieder die Augen zu, wobei ihr Kopf für eine Sekunde nach vorne nickte und sie jedes Mal erschrocken aufschaute und sich fragte, wo sie sich gerade befand. Es schien ihr manchmal, als sei der Zug ein lebendiges Wesen, das mit seinem Brummen und Stöhnen, Quietschen und Pfeifen seine Launen zu vermitteln beabsichtigte.
Aya döste vor sich hin. Bis zum Münchener Hauptbahnhof lag noch eine Dreiviertelstunde vor ihr, als sich eine hochbetagte Dame – sie schien schon über Neunzig zu sein – zu ihr gesellte. Sie war in einen feinen, hellgrauen Hosenanzug gehüllt, darunter trug sie eine Bluse mit einem zarten rosa Blumenmuster. Am Hals trug sie – wie Männer eine Krawatte tragen – eine dicke Schleife in Dunkelblau – und im selben Farbton kamen Schuhe, Tasche und der kurzkrempige Hut, der ihrer Gesichtsfarbe etwas Frisches verlieh, zur Geltung. Für ihr Alter schien die Dame mit der eleganten Aura noch recht beweglich zu sein. Überdies gab sie sich betont freundlich – doch die Freundlichkeit hatte nichts Herzliches – sie wirkte irgendwie aufgesetzt. Es hatte den Anschein, als sei sie innerlich von Groll erfüllt. Außer einer knappen Begrüßung kam zwischen den beiden keine Konversation zustande. Noch eine Viertelstunde bis zur Ankunft. „Oh, ich muss noch schnell ins Bad und mich ein wenig frischmachen. Ein Hauch von Puder und Lipgloss, schnell durchs Haar gewuschelt – und fertig ist die fesche Aya“, sang sie leise vor sich hin. Leise genug, um bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen, die womöglich doch noch zu einem Gespräch hätte führen können, was sie nun überhaupt nicht brauchte. Sie huschte in die enge Toilettenkabine und vollzog ihr kleines Schminkritual – dreißig Sekunden, mehr Zeit brauchte sie nicht.
„Wie er wohl auf die kurzen Haare und meine schlanke Figur reagieren wird, ich bin so gespannt.“ Sie trug eine enge Jeans – dazu einen leichten, hellblauen Strickpulli mit kurzen Ärmeln. Um die Hüfte schmiegte sich ein geflochtener, brauner Ledergürtel, farblich passend zu ihren Cowboystiefeln. Ihre kurze Jeansjacke trug sie lässig über der linken Schulter; an der rechten hing, als sie ausstieg, ihre blaue Sporttasche. Den Koffer aus grob gewebtem, schwarzem Leinenstoff konnte sie, dank der Transportrollen, leicht neben sich herziehen. Sie fühlte sich fröhlich und ausgelassen. Doch langsam beschlich sie ein banges Gefühl. Plötzlich kamen ihr Zweifel:
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In der Tiefe
„Doch, wem habe ich eigentlich gedankt? Und wo ist der freundliche Delfin? Vielleicht war es ja kein Traum und er existiert wirklich. Damals, als ich mit Tante Jo an diesem See war… da sah ich für einen Moment die Silhouette eines Delfins… Gibt es einen Zusammenhang?“ Sie hatte so viele Fragen. „Ja, es wäre zu schön, ihm wieder zu begegnen. Er sagte diese tröstenden Worte zu mir und versprach, mich zu begleiten und zu beschützen, wann immer ich ihn brauche. Doch, wo ist er jetzt…?“ Sie blickte sich suchend um, leider vergebens. Solle sie nach ihm rufen? Wie lautete sein Name? Als ihre Gedanken allmählich klarer wurden, fielen ihr die letzten Worte ein, die der Delfin zu ihr sprach:
„…bald wirst du die Wahrheit erfahren.“
DER DELFIN …Alexanders wahres Ich
„Wo bin ich?“ Aya erwachte aus einem langen und tiefen Schlaf der Erschöpfung, doch sie erinnerte sich sehr klar, als seien die letzten Erlebnisse erst vor einigen Augenblicken geschehen. Sie fühlte sich fantastisch – dieses federleichte Schweben empfand sie als solches Glück, dass sie zu hüpfen begann. Tiefe Zufriedenheit erfüllte jede Zelle ihres Körpers und erhellte ihre Seele. Verzückt betrachtete sie ihre prachtvolle Schönheit und bestaunte die Details dieser erheblichen Veränderungen ihres Äußeren. Neugierig begann sie, ihre Muskeln und Sehnen zu spannen, um die Reaktionen zu beobachteten. So fließend leicht übte sie das Schweben – auf und ab, ganz ohne Anstrengung, wirbelte sie, sowohl horizontal als auch vertikal, um ihre eigene Achse. Als sie eine Weile mit ihrer neuen Leichtigkeit spielte und die Schwerelosigkeit genoss, nahm sie plötzlich am Rande ihres Blickfeldes, in weiter Ferne, einen Schatten wahr.
Als sie sich umsah, konnte sie erkennen, dass sich eine Gestalt, mit weichen, wellenförmigen Bewegungen und scheinbar hoher Geschwindigkeit, näherte. Schließlich erkannte sie ihn – sie bebte vor Freude.
„Oh ja, er ist es – der freundliche Delfin, er ist zu mir zurückgekommen.“ Ihr Gesicht erstrahlte – und sie schnellte vor Erregung nach oben, wobei sie einen sehr großen Satz machte, sodass sie kurz erschrak. Sanft ließ sie sich wieder hinabschweben und hielt neugierig Ausschau. Der Delfin bewegte sich sehr behutsam auf sie zu, bis er ihr mit seinem hübschen Haupt sehr nah kam. Er schien zu lächeln und blickte Aya voller Liebe und Güte in die Augen.
VERSTEHEN | ERKENNEN | VERZEIHEN
So verharrten beide einen langen, magischen Moment – Aya erwiderte die sanften Blicke ihres Gegenübers und versuchte, aufmerksam zu lauschen, welche Worte er zu ihr sprechen mochte. Sie wollte ihm überlassen, wie sich ihre Konversation gestalten würde und wartete wie gebannt auf die ersten Anzeichen der Verständigung. Er sprach bereits einmal zu ihr, indem er ihr seine Gedanken übertrug.
„Meine liebe Aya…“, begann er nun mit der Suggestion seiner Botschaft. Dabei wiegte er – wie bei ihrer ersten Begegnung – sein Haupt hin und her und lächelte freundlich:
„Nun bist du angekommen – deine lange, leidvolle Reise ist vorüber – du bist eine sehr tapfere, junge Frau. Ich versprach, an deiner Seite zu sein – nun bin ich hier. Ich werde dir helfen, dich einzufinden, damit du dich sicher und geborgen fühlst. Was du sehen und erfahren wirst, mag dich erstaunen, vielleicht sogar verstören. Doch, sobald du begriffen hast… wird dein Herz erfüllt sein. Jedoch, einmal sollst du noch ausruhen, damit deine Sinne geweitet sind, um dieses atemberaubende Erlebnis aufzunehmen. Schließe nun deine Augen – wenn du sie wieder öffnest, wirst du bereit sein…“